Donnerstag, 2. Februar 2012

Der ESM: Kein "unkontrollierbares Monster"

Der Vertrag zum Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), den die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone vereinbart haben, ist am 1. Februar veröffentlicht worden. Einige Analysten wie Sebastian Kunze kritisieren den Vertrag massiv:
"Hier wird ein unkontrollierbares Monster geschaffen, das mit allen Grundsätzen, die unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ausmachen, nichts, aber auch gar nichts zu tun hat."
Ein genauer Blick in den Vertragstext zeigt jedoch: Alles halb so wild.


Worum geht's?

Artikel 3 des Vertrags legt fest:
"Zweck des ESM ist es, Finanzmittel zu mobilisieren und ESM-Mitgliedern, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen, unter strikten, dem gewählten Finanzierungselement angemessenen Auflagen eine Stabilitätshilfe bereitzustellen (...)."
Gelder aus dem ESM bekommen also nur Länder, die selber Mitglied des ESM sind, also den Vertrag ratifizieren. Dies sind alle Euro-Staaten. Das Geld gibt es außerdem nicht geschenkt, sondern nur als Kredit oder Darlehen (Artikel 14 bis 18) und nur unter Auflagen. Die Auflagen sind in Artikel 12, Absatz 1 kurz angerissen.


Wie viel Geld kann der ESM verleihen?

Artikel 8 legt fest:
"Das genehmigte Stammkapital beträgt 700 Milliarden EUR."
Allerdings darf der ESM nicht alle 700 Milliarden Euro verleihen, sondern, wie Artikel 39 festlegt, maximal 500 Milliarden Euro. Diese Maximalsumme kann später überprüft, also erhöht, werden. Dazu müssen allerdings alle Mitgliedstaaten des ESM zustimmen, wie Artikel 5, Absatz 6, Unterabsatz d festschreibt. Gegen den Willen auch nur einer einzigen Regierung ist dies nicht möglich.

Die ESM-Vertragsstaaten zahlen zudem nicht 700 Milliarden Euro in den Fonds ein, sondern insgesamt nur 80 Milliarden Euro. Deutschland als größtes Euro-Land trägt davon einen Anteil von 27,1464 Prozent (rund 21,72 Milliarden Euro), Österreich einen Anteil von 2,7834 Prozent (rund 2,23 Milliarden Euro). Sollte dieses Geld bei einem Kreditprogramm nicht ausreichen, kann der Geschäftsführende Direktor des ESM noch nicht eingezahlte Gelder nachfordern - natürlich nicht in unbegrenzter Höhe, sondern maximal nur, bis das genehmigte Stammkapital, also die 700 Milliarden Euro insgesamt, ausgeschöpft sind. Im Falle Deutschlands entspricht das maximal 190 Milliarden Euro, im Falle Österreichs rund 19,5 Milliarden Euro. In der Praxis wird der Geschäftsführende Direktor allerdings, wenn überhaupt, viel weniger Kapital nachfordern können.

Denn der Geschäftsführende Direktor kann nicht einfach nach eigenem Gutdünken Gelder abrufen. Gelder abrufen kann er nur dann, wenn der ESM Geld benötigt, um Gläubiger zu bezahlen, wie Artikel 9, Absatz 3 erläutert:
"Der Geschäftsführende Direktor ruft genehmigtes nicht eingezahltes Kapital rechtzeitig ab, falls dies notwendig ist, damit der ESM bei planmäßigen oder sonstigen fälligen Zahlungsverpflichtungen gegenüber Gläubigern des ESM nicht in Verzug gerät."


Wann aber hat der ESM Gläubiger?

Der ESM hat nur dann Gläubiger, wenn vorher ein entsprechendes Kreditprogramm in einer bestimmten Höhe beschlossen wurde. Und dieser Beschluss muss einstimmig fallen, wie Artikel 5, Absatz 5 festlegt.

Das heißt: Zuerst entscheiden alle Länder gemeinsam, ob einem Land Finanzhilfe gewährt wird. Dabei hat jedes ESM-Mitglied ein Veto-Recht, also auch die deutsche und österreichische Bundesregierung. Auch die maximale Höhe des Kreditprogramms legen die Regierungsvertreter gemeinsam fest. Geplant ist natürlich, dass überhaupt keine Gelder verloren gehen, sondern alle Kredite später von dem in Not befindlichen Staat auch wieder zurückgezahlt werden. Die Nachforderungsklausel ist also nur für den absoluten Notfall gedacht, um zu verhindern, dass der ESM selbst zahlungsunfähig wird. Sollten beim Hilfsprogramm Probleme auftauchen, kann der Geschäftsführende Direktor Gelder bis zu der vorher einstimmig beschlossenen Kredithöhe abrufen.

Eine solche Nachforderung kann also nur eintreten, wenn alle Regierungen vorher einem Kreditprogramm in einer bestimmten Höhe nochmals ausdrücklich zugestimmt haben.

Die entsprechenden Gelder müssen die ESM-Staaten "unwiderruflich und uneingeschränkt" überweisen, wie Artikel 8, Absatz 4 bestimmt. Obwohl diese Klausel auf den ersten Blick unnötig wirkt und für Empörung gesorgt hat, ist sie notwendig. Denn andernfalls könnte jedes Parlament der Eurozone einmal gemachte Zusagen einfach per Beschluss zurücknehmen. Dadurch, dass die Gelder "unwiderruflich und uneingeschränkt" überwiesen werden, entsteht für alle Vertragsparteien, auch für Deutschland und Österreich, Sicherheit.


Gibt's auch Geld zurück?

Ja. Da der ESM die eingezahlten Gelder anlegt, können Zinsen eingenommen werden. Solange keine Hilfsprogramme laufen, werden Gewinne an die Mitgliedsstaaten im Verhältnis des eingezahlten Kapitals zurückgezahlt, wie Artikel 23 festschreibt.


Sind die Mitglieder des ESM vor Strafverfolgung geschützt?


Dieses Gerücht hat für Unverständnis gesorgt. Es ist jedoch falsch. Immunität genießen die Angestellten des ESM laut Artikel 35 nur
"hinsichtlich ihrer in amtlicher Eigenschaft vorgenommen Handlungen".
Damit wird sichergestellt, dass ESM-Angestellte nicht wegen ihrer Arbeit beim ESM verklagt werden können. Der Vertrag begründet keine darüber hinaus gehende Immunität vor Strafverfolgung. Wer stiehlt, mordet oder vergewaltigt, landet weiter vor Gericht.

Außerdem ist das ESM-Vermögen laut Artikel 32, Absatz 4 geschützt:
"Das Eigentum, die Mittelaustattung und die Vermögenswerte des ESM genießen unabhängig davon, wo und in wessen Besitz sie sich befinden, Immunität von Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung, Enteignung und jeder sonstigen Form des Zugriffs durch vollziehende, gerichtliche, administrative oder gesetzgeberische Maßnahmen."
Wäre dem nicht so, könnte ein Gericht in einem ESM-Staat verfügen, dass das Vermögen des ESM zur Deckung von irgendwelchen Forderungen genutzt wird. Genau das wird durch diese Klausel ausgeschlossen. Dies ist übrigens Standard bei internationalen Verträgen.


Fazit: Ein "unkontrollierbares Monster"?

Die Bestimmungen des ESM mag man kritisieren, wenn man die Notkredite gegenüber Euro-Staaten ohnehin ablehnt. Ein "unkontrollierbares Monster" wird mit dem Vertrag aber keineswegs geschaffen. Stattdessen müssen bei allen wesentlichen Entscheidungen alle Vertreter der nationalen Regierungen zustimmen. Die Mittel des ESM sind außerdem vor nachträglichem Politikwechsel in einzelnen Staaten geschützt, da das Vermögen nicht gepfändet werden darf und die Einzahlung der Gelder in den ESM nicht rückgängig zu machen ist. Auch die Angestellten dürfen wegen ihrer Tätigkeit beim EMS nicht einfach verklagt oder verhaftet werden und sind dadurch nicht so leicht zu erpressen.

Ob der ESM die Probleme der Euro-Zone löst, ist freilich ein anderes Thema.

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