Donnerstag, 17. November 2011

Gender Bender: Hilfe für Italiens Comeback

Nach 73 Veranstaltungen an acht Tagen mit 151 Künstlern endete am 5.11. das Gender Bender Kulturfestival in Bologna. Die Veranstalter begrüßten 17.000 Besucher, Ballet- und Theateraufführungen sowie Konzerte waren komplett ausverkauft. Zumindest für die Organisatoren also ein Grund zum Feiern, auch wenn Daniele del Pozzo (Foto), künstlerischer Leiter des Festivals darauf hinwies, dass es in Italien dieses Jahr, dem 150. Jahr der Staatsgründung, eigentlich „wenig zu feiern gibt“.

Für die Künstlerinnen und Künstler, die in den verschiedenen Veranstaltungen zu sehen waren, von Konzerten über Tanz und Theater bis zu Lesungen und Film, war der Zustand der italienischen Gesellschaft allerdings vor allem ein Ansporn, sich kritisch mit dem Umgang von Schwulen und Lesben und den Geschlechterverhältnissen in Italien auseinanderzusetzen.

So wiesen die Sieger der Gender Bender Jukebox-Competition, die Band „Armoteque“, auf die unbefriedigende Situation von Frauen in Italien hin, die viel zu selten gesellschaftliche Machtpositionen einnehmen würden. Die zweitplatzierte Gruppe, „Ménage à Trois“ nutzte ihren Auftritt für eine Demonstration auf der Bühne, um zu fragen, ob junge Italiener nicht „verrückt“ seien, noch in Italien zu bleiben. An zwei Abenden wurde Cristian Ceresolis äußert Italien-kritischer Monolog „La Merda“ aufgeführt. Die nur einminütige Perfomance „Troca“ von Marta Dell’Angelo und Márcia Lança macht die Geschwindigkeit deutlich, mit der sich die Dinge manchmal ändern können. Im Rahmen des umfangreichen Kinoprogramms war unter anderem die Dokumentation „Too much Pussy“ zu sehen, die weibliche Sexualität positiver darstellen möchte, als dies normalerweise passiert. Und Lidia Ravera kritisierte bei der Präsentation ihres Buches „Piccoli Uomini“ die Degradierung der Frauen durch die politische Klasse Italiens zu Objekten und suchte es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen – die meisten männlichen Politiker kamen dabei nicht allzu gut weg. Thematisiert wurden darüber hinaus in anderen Veranstaltungen unter anderem die Wahrnehmung des weiblichen Körpers in der Mediengesellschaft und die Situation von Regenbogenfamilien, da schwulen und lesbischen Paaren die Adoption von Kindern verboten ist. Neben all der anstrengenden inhaltlichen Diskussion wurde natürlich auch gefeiert.

Eine Woche Gender Bender zeigt vor allem das Bild eines anderen, offenen Italiens, das mit dem eigenen Land oft sehr hart und sehr kritisch ins Gericht ging. Es bleibt die Frage: Bringt das irgendetwas? Eine kritische Zivilgesellschaft gibt es in Italien schon sehr lange, die Gegenkultur, die „controcultura“, ist in Italien kein neues Phänomen. Doch trotz dieser großen, lebendigen und kritischen Zivilgesellschaft blieb die gesellschaftliche Modernisierung Italiens in den letzten zwanzig Jahren aus. Daniele del Pozzo, der künstlerische Leiter des Festivals, sprach sogar von „Rückschritten“. Auch die Künstlerinnen und Künstler erklärten immer wieder, Italien lebe zu sehr in der Vergangenheit und konzentriere sich zu wenig auf die Zukunft, ähnlich einer alternden Diva, die in Gedanken bei ihren glorreichen alten Zeiten sei.

Daniele del Pozzo und Elisa Manici, die Organisatoren des Festivals, zeigten sich dennoch überzeugt, dass das Gender Bender-Festival einen Unterschied machen könne. Selbst diejenigen, die sich bereits mit den Zielen des Festivals für mehr gesellschaftliche Liberalisierung identifizieren würden, bekämen neue Ideen und würden sich unerwarteten Impulsen ausgesetzt sehen. „Es ist gut, wenn man von einer Sache überzeugt zum Festival anreist und dann mit Zweifeln wieder abfährt“, meint Daniele del Pozzo. Zudem erreiche das Festival viele Menschen, die sich sonst wahrscheinlich selten mit Fragen von Diskriminierung und Chancengleichheit von Schwulen, Lesben und Frauen auseinandersetzen würden. 40 Prozent des Publikums sind heterosexuell, haben die Organisatoren mit Fragebögen herausgefunden. 55 bis 60 Prozent sind Frauen, das Alter der Besucher reicht von 18 bis 75 Jahren. „Bei den Theatervorstellungen erreichen wir beispielsweise ein Publikum, das sonst nicht ins Theater geht“, sagt Daniele del Pozzo. „Ich glaube zwar nicht, dass eine homophobe Person zu unseren Veranstaltungen kommt“, meint Elisa Manici. „Aber ich denke, was wir hier seit Jahren machen, hat mittelfristig Effekte. Das heißt, wir haben bewusst entschieden, uns nicht zu ghettoisieren oder zu verstecken. Das bringt durchaus Risiken mit sich, etwa für Leute, die nicht offen mit der schwulen oder lesbischen Szene identifiziert werden wollen. Aber gleichzeitig machen wir uns überall in der Stadt bemerkbar.“ Im Laufe der Jahre würden so alternative Standpunkte in der breiteren Bevölkerung bekannt und diskutiert.

Ob Italien, diese alternde, aber nach wie vor bezaubernde Diva, die Selbstreflexionen zur Erneuerung tatsächlich nutzt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen, wenn eine alte Politikerkaste (die meisten führenden Politiker sind um die 70 Jahre alt) langsam abtritt. In der Zwischenzeit bereiten die Organisatoren das nächste Gender Bender Festival vor, im Oktober 2012, in Bologna.

Gender Bender: Your body is a battleground!

Seit mindestens einer Generation diskutieren Frauen (und manche Männer) über sexuelle Befreiung und Feminismus – was hat sich geändert? Zu wenig, ist das Fazit einer kleinen Konferenz mit dem Titel „Corpi eccentrici“ im Rahmen des Gender Bender Kulturfestivals in Bologna. Insgesamt fünf Rednerinnen beschäftigten sich in ihren Vorträgen mit dem Körperdiskurs in Italien und der westlichen Welt; sie untersuchten Sprache, Werbung und Kunst.

Beispiel Werbung: Die Unterordnung der Frau unter den Mann sei in den Jahren zwischen 1960 und 2000 mehr oder weniger gleich geblieben, sagte in ihrem Vortrag Roberta Sassatelli, Soziologie-Dozentin an der Universität Mailand. Zwar habe sich die Darstellung der Frau in der Werbung durchaus gewandelt, und dabei seien auch Bestrebungen nach Gleichberechtigung wahrgenommen worden. Dies äußere sich aber vor allem darin, dass in der Werbung Frauen heute auch mit Aktivitäten assoziiert werden, die traditionellerweise männliche Domänen waren, zum Beispiel dem Motorradfahren. Gleichzeitig sei Werbung aber auch wesentlicher sexualisierter als vor 50 Jahren. Besonders deutlich werde dies in der Werbung für alkoholische Getränke. Auch die Bierwerbung in den 1950er Jahren zeigte junge, hübsche Frauen und spielte mit sexuellen Andeutungen, etwa in Bezug auf körperliche Schönheit. Doch viel radikaler waren diese Andeutungen nach der Jahrtausendwende, als Bierhersteller mit Frauen in eindeutigen Posen und einer Bierflasche als Phallussymbol zwischen den Schenkeln für sich warben.

Was tun gegen die Darstellung der Frau als Konsumobjekt? Vor allem zu einem riefen die Referentinnen auf: Aktiv werden. „Man darf sich nicht im eigenen Bekanntenkreis aufregen, sondern muss sich auch darüber hinaus äußern“, sagte die Kunsthistorikerin Alessia Muroni (Foto, rechts), die über die Darstellung des lesbischen Körpers in der Kunst sprach. Und unabhängig davon, ob man ihr Anliegen für besonders dringend hält oder nicht, machte Charlotte Cooper von der Universität Limerick in Irland in ihrem Vortrag über Queer Fat Activism auf unterschiedliche Formen des Protests aufmerksam: Von der Arbeit an der Geschichte des Widerstands gegen den Sexismus, über Flashmobs bis hin zu musikalischen Formen des Protests.

Mittwoch, 16. November 2011

Gender Bender: Wenn Lesben und Schwule Kinder haben

Noch schärfer als in Deutschland sind die gesetzlichen Regelungen in Bezug auf die Adoption von Kindern durch Schwule und Lesben in Italien: Die Adoption ist schlicht verboten. Wie es Regenbogenfamilien in Italien geht, wurde entsprechend gleich auf mehreren Veranstaltungen des Gender Bender Festivals in Bologna diskutiert, unter anderem nach einem Dokumentarfilm und bei einer Buchvorstellung.

Zwei Jahre lang haben die Regisseurinnen Nadia Dalle Vedove und Lucia Stano zwei Regenbogenfamilien begleitet: Ein lesbisches Paar mit drei Kindern und ein schwules Paar, das versucht, sich den Kinderwunsch zu erfüllen. Der daraus hervorgegangene Dokumentationsfilm „Il lupo in calzoncini corti“ zeigt erstens denn Alltag der Mailänder fünfköpfigen Regenbogenfamilie, der sich so gut wie überhaupt nicht vom Alltag einer traditionellen Familie unterscheidet: Kinder lachen, Kinder schreien, Kinder toben, Kinder gehen zur Schule. Aber sind Kinder nicht gerade in der Schule besonderen Hänseleien ausgesetzt, wenn sie nicht bei Mutter und Vater aufwachsen? Der Film lässt die Kinder selbst zu Wort kommen: Die Mitschüler würden oft fragen, das könne auch nerven. Aber abgesehen davon gebe es keine besonderen Vorkommnisse. „Ich fühle mich nicht schlechter oder besser als die anderen“, sagt eines der Kinder.

Daneben zeigt der Film aber auch die Schwierigkeiten homosexueller Paare, die sich einen Kinderwunsch erfüllen wollen. Da Adoption in Italien nicht möglich ist, müssen schwule oder lesbische Paare erhebliche Hürden überwinden, um dennoch Eltern zu werden. Viele versuchen, eine Leihmutter in den USA, Kanada oder der Schweiz zu finden. Es gibt durchaus Frauen, die dazu bereit sind, doch das Vorgehen ist mit hohen Kosten und Risiken verbunden. Nicht immer werden die Frauen nach der künstlichen Befruchtung auch tatsächlich schwanger. So auch bei dem im Film gezeigten schwulen Paar aus Rom, dass drei Mal vergebens nach Amerika flog. Erst beim vierten Mal wurde die Leihmutter schließlich schwanger. Der Film schließt mit der berührenden Freude des Paares und der Leihmutter, als deren Schwangerschaftstest endlich positiv ausfällt.

Über seine Erfahrungen als Vater von drei Kindern in einer schwulen Beziehung gab bei einer Buchvorstellung Claudio Rossi Marcelli (Foto, Mitte) Auskunft. Der Journalist ist Autor von „Hallo Daddy“. Claudio Rossi Marcelli und sein Partner, mit dem er seit etwa 10 Jahren eine Beziehung führt, haben ebenfalls Leihmütter gesucht, um Väter zu werden. Das Paar hat drei Kinder, bei zweien ist Claudio Rossi Marcelli der biologische Vater, bei einem sein Partner. Doch das sei mehr von theoretischem als von praktischem Interesse: „Wir machen keinen Unterschied zwischen den Kindern. Der biologische Aspekt spielt absolut keine Rolle“. Das größte Problem sei, dass es keinerlei rechtliche Möglichkeit für den nicht-biologischen Vater gebe, Verantwortung zu übernehmen. Wenn derjenige, der rechtlich für die Kinder verantwortlich sei, beispielsweise die Beziehung beende, habe der Partner keine Handlungsmöglichkeit, um zum Beispiel das Sorgerecht für die Kinder zu bekommen. Ähnlich im Falle eines Unfalls des biologischen Vaters: Da keine Adoption möglich sei, könne es passieren, dass die Kinder in eine Pflegefamilie gegeben würden. Zwar ließen sich privatrechtliche Vereinbarungen treffen, die das Sorgerecht dem Partner übertragen, aber ob die am Ende auch angewandt würden, liege weitgehend in der Entscheidungshoheit des Richters.

Und wie reagieren Freunde und Bekannte auf die Vaterschaft? „Es hat absolut keine negativen Reaktionen gegeben“, sagt Claudio Rossi Marcelli. Trotz der konservativen rechtlichen Lage sei eben auch das Italien: „Sobald die Kinder da sind, freuen sich alle“.

Samstag, 5. November 2011

Gender Bender: Troca - Wandel

„Auf Portugiesisch bedeutet „Troca“ Wandel. Der Wachwechsel, sich ändernde Gepflogenheiten, wirtschaftlicher Wandel in anderen Ländern, […] Wechsel der Identitäten […]. Eine einminütige Performance in Zusammenarbeit mit der portugiesischen Tänzerin Márcia Lança.“ So kündigt das Programm des Gender Bender Festivals in Bologna die Performance „Troca“ von Marta Dell’Angelo und Márcia Lança an. Was wird also während dieser einen Minute passieren? Ein Tanz?

Die Lösung kann manchmal so simpel sein und dabei so offen für vielfältige, persönliche Interpretationen. Eine Frau liegt vor Beginn der Performance auf dem Boden, draußen, neben dem Museum für Moderne Kunst Mambo, scheinbar schlafend, aber ganz normal bekleidet. Plötzlich geht von rechts aus einer nicht-einsehbaren Ecke eine nackte Frau auf sie zu und zieht sie, Stück für Stück aus, um sich selbst die Kleidung der schlafenden Frau anzuziehen: Schuhe, Strümpfe, Hose und Unterwäsche, Top, auch Schmuck. Anschließend setzt sie ihren Weg fort und verschwindet. Die schlafende Frau wachst auf, steht auf, und geht in die entgegengesetzte Richtung davon. 

Nur ein Augenblick, und schon hat sich alles verändert.

Donnerstag, 3. November 2011

Gender Bender: Mit dem Schlachtermesser zur Party

Normalerweise mache ich nur selten Party-Fotos, aber bei der Omonoia-Party am Mittwochabend auf dem Gender Bender Festival in Bologna fiel das ausgesprochen leicht. Die Party stand unter dem Motto „Tragica fine“ („Tragisches Ende“). An die Besucher erging die Aufforderung, dieses Motto kreativ zu interpretieren. Während auf der Bühne ein überdimensionaler Totenkopf aufgebaut wurde, warfen sich also viele Gäste in Schale und kamen in einem dem letzen Ende angemessenen Dress: Mit Schlachtermesser. Mit Strick um den Hals. Mit aufgeschlitzter Kehle. Halloween lag zum Glück noch nicht allzu weit zurück. Und derart aufgestylt konnten sie es dann gar nicht erwarten, endlich fotografiert zu werden. Kaum war die Kamera zu sehen, kamn schon die Frage: „Machst du ein Foto?“. Klar kein Problem!

Musik wurde natürlich auch gespielt. Auf dem Programm stand ein Live-Auftritt des Berliner DJs Electrosexual und des Duos Scream Club, ebenfalls aus Berlin. Ergänzt wurde der Auftritt von den DJ-Sets von Protopapa, Omonoia Resident, und Little Fluffy Luke.

Gender Bender: Too much Pussy!

Die eigentlich recht breite öffentliche Auseinandersetzung mit Sexualität und Sex wies lange eine merkwürdige Lücke auf: Weibliche Sexualität kam darin kaum vor. Der Mann wurde als sexuell aktives Wesen dargestellt, dem die Frau entweder zur Verfügung steht, oder nicht, die sexuellen Wünsche und Bedürfnisse der Frauen selbst dagegen wurden meist nicht ernst genommen. Entsprechend begründeten Vergewaltiger ihre Taten damit, dass die Frauen doch eigentlich gewollt oder die Tat wenigstens verdient hätten – „Die musste mal richtig rangenommen werden.“ Auch in Sprüchen gegenüber Lesben zeigt sich dieses Denken, wenn ihnen vorgehalten wird, sie hätten einfach nur noch nicht die richtigen Erfahrungen mit einem Mann gemacht. 

Von daher ist es zu begrüßen, wenn Frauen sich des Themas „Weibliche Sexualität“ annehmen und offensiv damit umgehen. Der Film „Too much pussy. Feminist Sluts, a Queer X Show“ (Foto, GMfilms), gezeigt auf dem Gender Bender Festival in Bologna, dokumentiert so einen Ansatz. Sieben Frauen, Emilie Jouvet, Wendy Delorme, Judy Minx, Madison Young, Sadie Lune, Mad Kate und DJ Metzgerei machen sich auf eine Tour durch Europa. Es geht von Berlin nach Brüssel, Paris, Köln, Kopenhagen, in eine nicht genannte schwedische Stadt (Stockholm?) und schließlich zurück nach Berlin. Überall führen sie ihre Queer X Show auf, setzen sich sehr explizit mit Sexualität auseinander. All das zeigt die Dokumentation in teils recht drastischen Bildern.

Der Film hat interessante Momente. Etwa wenn sich die Protagonistinnen beklagen, dass sich nach wie vor meistens Männer zum Beispiel als Ärzte mit den weiblichen Geschlechtsorganen auseinandersetzen, diese vielen Frauen aber unbekannt sind – und dann mit Spiegel und Lupe daran gehen, diese Unkenntnis abzubauen. Wenn sie feststellen, dass weibliche Sexualität immer noch oft entweder sehr positiv dargestellt wird (Sex mit Frauen als Paradies) oder sehr negativ (stinkend, dreckig), es aber keine mittlere Position gibt. Wenn sie in ihrer Show den Selbst-Exhibitionismus auf Facebook und MySpace thematisieren und kritisieren.

Aber zwischen diesen Momenten ist der Film leider unglaublich dröge, immer demselben Muster folgend: Die Gruppe steigt ins Auto. Fünf Minuten lang wird gezeigt, was während der Fahrt passierte (Gelächter, einzelne Gesprächsfetzen, kleine Provokationen auf der Raststätte). Dann kommt die Gruppe am Ziel an, bereitet ihre Show vor und zieht sie mal mehr, mal weniger erfolgreich durch. Anschließend noch eine kurze Nachbesprechung, und ab geht’s in die nächste Stadt. Bei diesen schier endlosen Wiederholungen geht die eigentlich interessante Botschaft des Films ziemlich schnell verloren. Vielleicht ist es ein Problem, dass zwei der Protagonistinnen, Wendy Delorme und Emilie Jouvet, auch das Buch schrieben oder Regie führten. Denn so erinnert der Film mehr an ein Erinnerungsvideo für die Gruppe selbst (à la „Was hatten wir für eine coole Zeit, weißt du noch?“) als an einen Film, der sich an ein fremdes Publikum richtet. Eine Konzentration aufs Wesentliche wäre eindeutig mehr gewesen.

Gender Bender: Der heimliche Lauscher


Es ist ein unangenehmes Gefühl, als Gast bei einem Familientreffen anwesend zu sein, dass auf einmal völlig aus dem Ruder läuft. Auf einmal beschimpft sich die Familie auf heftige Art und Weise, die Familienmitglieder holen die ganze schmutzige Wäsche der letzten Zeit aus der Tasche, um sie mal so richtig durchzuwaschen. Man kann als Gast nicht einfach aufstehen und gehen – das würde auffallen – und interessant ist die Szene ja auch irgendwie. Seine Meinung zu äußern, wäre allerdings komplett unangemessen. Also sitzt man da, hört zu und hofft, dass einen niemand bemerkt.

Ungefähr so war meine Stimmung gestern bei der Aufführung des Monologs „La Merda“ („Die Scheiße“) von Cristian Ceresoli im Teatrino degli Illusi, eine Veranstaltung im Rahmen des Gender Bender Kulturfestivals in Bologna. Und was für schmutzige Wäsche gewaschen wurde, Berge schmutziger Wäsche, die Wäsche ganz Italiens. Was wir über das „Belpaese“ zu hören bekamen, war alles andere als appetitlich, das Panorama eines Landes, das sich ergeht in oberflächlichem Konsumismus, in Sexismus und Gewalt. Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, die einen großen Traum verfolgt: Ins Fernsehen zu kommen. Und dafür geht sie durch die Hölle. Sie unterwirft sich einem gnadenlosen Diktat anderer. Macht Diäten, nimmt zu, erträgt sexuelle Gewalt, flüchtet in Traumbilder. Zweimal isst sie ihre eigenen Exkremente. Und das alles nur, um an Ende einmal die italienische Nationalhymne singen zu dürfen.

Die Leistung der Schauspielerin, Silvia Gallerano, ist beeindruckend. Nackt sitzt sie über 40 Minuten auf einem riesigen Hocker und erzählt, unterstützt von ausdruckstarker Mimik und Gestik, die Lebensgeschichte der Protagonistin. Sie spricht leise, dann schnell, dann schreit sie, den Finger in die Höhe gestreckt. Eine riesige Textmasse. Eng ausgedruckt entspricht sie zehn Seiten.

Man ging also hart mit der eigenen Gesellschaft ins Gericht und das Publikum lechzte geradezu nach mehr. Heftiger Applaus nach jedem der drei Akte, dazu Szenenappalaus. Eine solche Selbstkritik erlebt man selten. Und manches stimmt ja auch. Es gibt junge Frauen, oder besser: Mädchen, deren Ziel es ist, leicht bekleidetes Showgirls im Fernsehen zu werden, und es gibt diese Showgirls, die anschließend politische Karriere machen. Das Fernsehen als Pforte zur Macht. Berlusconis Sex-Eskapaden sind mittlerweile sowieso legendär. Ein Witz, aber für wen? Über die Mädchen, die ihm zur Stelle waren, weiß man meistens wenig.

Natürlich ist das Bild, dass dieses Theaterstück vermittelt, nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist das Publikum, das schockiert ist ob dieser gesellschaftlichen Entwicklungen. Und mit diesem Publikum würde man sich nur zu gerne solidarisieren, ihre Partei ergreifen. Aber: Es ist eben eine Sache, ob man sich selbst kritisiert, oder andere. Im ersten Fall darf die Kritik viel härter ausfallen als im zweiten. Das ist mein Dilemma. Am Ende der Aufführung heftiger Applaus. Ich klatsche mit und hoffe, dass es niemand sieht.

Dienstag, 1. November 2011

Gender Bender: Berlin zu Gast in Bologna

Unglaublich, wie präsent Berliner Musiker im Clubbing-Programm des Gender Bender Festivals im italienischen Bologna sind. Bei immerhin vier von sechs musikalischen Veranstaltungen wirken Künstler mit, deren (Wahl-)Heimat Berlin ist.

Schon am ersten Abend gestalteten zwei Künstler mit Verbindungen nach Berlin die Eröffnungsparty des Festivals: Der irische DJ Cormac, der beim Berliner Label Bpitch Control veröffentlicht, und der Wahlberliner Snax.

Gestern dann unternahm die Partyreihe CockTail D'Amore einen Ausflug von der Spree in die Emilia Romagna. Die CockTail D'Amore wird organisiert vom italienischen Duo Discodromo, das seit 2008 in Berlin beheimatet ist, und Berghain-Resident Boris. Das Publikum reagierte auch in Bologna ausgelassen und feierte bis weit in den Morgen.

In den nächsten Tage geht es ähnlich weiter. Morgen, am 2. November, ist Electrosexual (Foto) zu Gast, der unter anderem mit Peaches zusammenarbeitet und zwar eigentlich aus Frankreich kommen, aber ebenfalls Berlin zu seiner Wahlheimat erkoren hat. Am 5. November ist bei der Girls Town-Party nicht nur Leiterin Zoe zu Besuch, sondern auch die Djane Metzgerei, die nebenbei unter anderem die avantgardistische queer-feministische Berliner Zeitschrift Bend Over entwickelt hat. Begleitet werden sie von Mz Sunday Luv, bekannt unter anderem aus der mittlerweile geschlossenen Bar 25.

Immerhin zwei Veranstaltungen laufen ganz ohne Berliner Beteiligung ab. Die Horse Meat Disco, die am 4. November stattfinden wird und aus London kommt, und das Konzert der Mailänder Gruppe Egokid, die ihr Album „Ecce Homo“ heute Abend vorstellen.

Lidia Ravera: "Liebe gehört nicht auf den Marktplatz!"

Furioser Auftritt von Lidia Ravera (Foto) beim Gender Bender Kulturfestival in Bologna. Die Autorin und Journalistin stellte ihr neues Buch vor, „Piccoli Uomini“ (Kleine Männer). Die ebenso polemische wie lustige Grundidee des Buches: Jenen Blick, mit dem Silvio Berlusconi und Co. bisher Frauen begutachteten, umzudrehen und auf die (männliche) politische Klasse selbst anzuwenden, also nur noch oberflächliche Äußerlichkeiten zu betrachten. Nicht jeder Politiker kommt dabei schlecht weg. Berlusconi schon, der als ziemlich hässlich dargestellt wird, aber über Pier Ferdinando Casini beispielsweise weiß die Autorin auch ein oberflächliches Lob auszusprechen. Wäre ja auch noch schöner, wenn alle italienischen Politiker hässlich wären.

Die Diskussion mit der Autorin ging bald etwas tiefer, blieb aber angenehm provokativ. Die Idee des Buches, erklärte sie, sei das hoffentlich der eine oder andere Mann die Geschichten lese, sich ob der Oberflächlichkeit beleidigt fühle und daraus den Schluss ziehe, sich gegenüber Frauen anders, respektvoller, zu verhalten.

Die Situation von Frauen in Italien sei so schlecht wie eh und je, bilanziert die Autorin ernüchtert. Denn die zunehmende prekäre Beschäftigung mit nur kurze Zeit laufenden Arbeitsverträgen lasse gerade junge Frauen ohne Schutz. Die Frage: „Planen Sie in nächster Zeit Kinder“ sei bei Vorstellungsgesprächen weiter Gang und Gäbe, und sollte eine junge Frau tatsächlich schwanger werden, sei die Kündigung damit gleichzeitig so gut wie ausgesprochen, weil der Vertrag einfach nicht mehr verlängert werde. Im Ergebnis verschöben immer mehr Frauen den Kinderwunsch. „Später, später, und irgendwann sind sie 45 und es kommen keine Kinder mehr“, sagt sie. Tatsächlich hat Italien eine der niedrigsten Geburtenraten in Europa.

Zur Lösung schlägt die Journalistin unter anderem vor, Männer zu verpflichten, ihren Job zu unterbrechen, um für die eigenen Kinder zu sorgen, damit Frauen und Männer auf dem Arbeitsmarkt gleichgestellt werden. Große Hoffnung setzt sie auch in die Frauenbewegung, die im Februar Massen auf die Straße brachte, um gegen Berlusconi demonstrierten. Die Bewegung könne helfen, „dieses Land aus der Scheiße zu holen, in der es gelandet ist“, meinte Lidia Raver unter dem Applaus des Publikums.

Ist aber nicht Berlusconi selbst ein Ergebnis der sexuellen Befreiung, die die 1968er angestrebt haben? Nein, meint Lidia Ravera. Denn es ging um die Befreiung der Lust, nicht um eine Logik des Kaufens. „Unsere Titten waren kein Investment in die Zukunft“, ruft sie ins Publikum. Das zentrale Element von Liebe und Freundschaft sei gerade, dass diese Gefühle gratis seien und nichts kosteten. „Der Kauf ist der Tod der sexuellen Befreiung“, rief sie. Und stellte zum Abschluss unter letztem Applaus fest, dass die Transformation jeder menschlichen Beziehung zu einem Objekt auf dem Marktplatz eines der zentralen Probleme der heutigen Zeit sei.

Montag, 31. Oktober 2011

Gender Bender: Der Polit-Song lebt!

Zehn Bands, zehn Songs, alles Klassiker italienischer Sängerinnen, ein Wettbewerb. Das war die Idee der „Jukebox Live Band Competition“ am Sonntag im Rahmen des Gender Bender Kulturfestivals in Bologna. Am Ende setzte sich die Band Armoteque (Foto) durch, die das Lied „L’importante è finire“ der italienischen Schlagersängerin Mina aus dem Jahr 1975 interpretierten. „Das Lied handelt von Sexualität, das Gender Bender Festival handelt ebenfalls davon“, erklärt Sängerin Stefania die Song-Auswahl. „Wir mussten den Song nicht groß ändern“, sagt Band-Mitglied Gian Luca, „die Musik haben wir etwas elektronischer gemacht, der Text spricht für sich.“ Der Song handelt von einer Frau, die mit ihrem Liebhaber schläft.

Wie viele Bands versahen auch Armoteque ihren Auftritt mit einer politischen Botschaft. 99 Prozent der wichtigsten Machtpositionen seien in Italien nach wie vor von Männern besetzt, kritisierte Stefania unter dem Applaus des Publikums. „Wir mögen uns emanzipiert fühlen, tragen Miniröcke und hohe Absätze und gehen mit unseren Freundinnen Kaffee trinken, aber in Wahrheit stehen wir noch ganz am Anfang der Emanzipation.“ Auch andere Bands legten Wert auf eindeutige Statements: Die zweitplatzierte Gruppe „Ménage à Trois“, die den Klassiker „Sono matta da legare“ von Milva interpretierte, nutze die Show für eine Demonstration. Immer mehr Statisten stiegen auf die Bühne, hielten Plakate und Transparente hoch. „Wir sind verrückt, hier zu bleiben“, war auf einem Transparent zu lesen, und dazu auf anderen Schildern die Gründe, warum man es dann doch tut: „Wegen Verdi und Bellini“, „Weil ich es versuchen will“ und auch „Weil es bequem ist“.

Europas vergessene Stärke?

Aus dem Blickwinkel der Organisatoren hätte der Zeitpunkt wahrscheinlich nicht besser gewählt werden können: Auf dem Höhepunkt der Verhandlungen über ein neues Euro-Rettungspaket veranstaltete die Heinrich Böll Stiftung in Berlin eine Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union (Foto: (c) Heinrich Böll Stiftung, Flickr). Während also draußen Angela Merkel ihre Regierungserklärung absagte und der Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs verschoben wurde, diskutierten am 19. und 20. Oktober die Konferenzteilnehmer unter dem Motto „Solidarität und Stärke“ die Ergebnisse der Arbeit einer Expertenkommission, die sich ein Jahr lang mit der Zukunft der EU beschäftigt hatte. Immer mal wieder blitzte die politische Wirklichkeit in die Konferenzräume. „Hat hier jemand ein I-Phone?“ fragte Moderatorin Miriam Janke, als während der Abschlussdiskussion auf einmal, zunächst als Gerücht, die Meldung durch die Reihen ging, dass der Euro-Rettungsgipfel verschoben sei. Konferenzteilnehmer, Zuschauer und Abgeordnete begannen hektisch, über ihre Touschscreens zu wischen.

Drei Themen stachen aus den vielen Diskussionsrunden heraus: Natürlich die Frage der Wirtschafts- und Währungsunion, dann die Bedeutung der europäischen Demokratie und schließlich – sicher am überraschendsten – ein Hinweis von Andrew Moravcsik auf Europas (vergessene) Stärke.

                Solidarität – aber mit wem?

Dominant waren von Anfang an Diskussionen um Stand und Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion. Ralf Fücks, der zu Beginn der Konferenz die Ergebnisse der Expertenkommission skizzierte, nannte die No-Bail-Out-Klausel der europäischen Verträge, die die gemeinsame Haftung der Euro-Staaten für Staatsschulden ausschließt, eine „Lebenslüge“ und forderte das Zusammengehen von Währung und Haftung. Die Kommission unterstützte denn auch Eurobonds, wenn auch nicht einstimmig. Da zugleich die Divergenz der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften auf Dauer die gemeinsame Währung untergrabe, seien generell mehr Wachstum und in diesem Zusammenhang auch Investitionsprogramme nötig. Die komplexen Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion boten genug Anlass auch für kritische Positionen. So provozierte der Schwede Mats Persson, Direktor des wirtschaftliberalen Think Tanks Open Europe, mit der Frage, was denn eigentlich gemeint sei, wenn nun allenthalben nach Solidarität gerufen werde. Seine Analyse: Die geforderte Solidarität solle auch dazu dienen, jenen, die bisher schon eher auf der Gewinnerseite standen, nun Einschnitte zu ersparen. Zum Beispiel dadurch, dass in manchen südeuropäischen Ländern der Arbeitsmarkt so unflexibel sei, dass einmal angeheuerte Arbeitnehmer kaum entlassen werden könnten, während andererseits junge Arbeitslose deshalb wenn überhaupt nur prekäre Verträge bekämen. Und in Nordeuropa profitierten nicht zuletzt die Banken, die auf Kosten der Steuerzahler wieder einmal von Verlusten befreit würden. Da die Mehrheit der Bürger – im Norden wie im Süden – vor allem Kosten präsentiert bekämen, ließen sich leicht Stereotype über den jeweils anderen bedienen.


Demokratie: „Auf der europäischen Hochebene ist die Luft dünner“

Wie die Demokratie auf europäischer Ebene gestärkt werden könne war ein zweites Thema, dass sich ebenfalls durch viele Veranstaltungen zog. Die von Ralf Füchs vorgestellten Empfehlungen der Expertenkommission versammelten gleich eine ganze Reihe von Wünschen. Denn die Kluft zwischen Eliten und Bevölkerung in den Mitgliedstaaten wachse und dem Projekt der europäischen Integration drohe ein Akzeptanzverlust.  Als Antwort auf diese Herausforderung formulierte er: „Mehr Demokratie für Europa wagen“. Dazu zählt die Expertenkommission die Stärkung des Europäischen Parlaments, für das die Bürger europäische Parteien statt wie bisher nationale Listen wählen sollten, das zukünftig befugt sein müsse, Gesetzesinitiativen einzubringen und das entscheidenden Einfluss auf die Bildung der Kommission haben müsse. Der Einfluss der Zivilgesellschaft müsse über die Europäische Bürgerinitiative gesteigert werden.
Doch wie immer liegt auch hier der Teufel im Detail. So machte der grüne Europaabgeordnete Gerald Häfner bei einer Podiumsdiskussion deutlich, dass nicht alle Begehren der Bürger mit der Europäischen Bürgerinitiative auf den Tisch kommen können. Denn die Europäer können nur dann mittels der Bürgerinitiative die Politik zum Handeln auffordern, wenn über dieses Thema bereits auf europäischer Ebene durch die EU-Kommission behandelt worden ist. Dadurch werde, meinte Häfner, der Bürgerwille in den meisten zentralen Politikfeldern wie der Sozialpolitik gleich wieder ausgebremst und der Nutzen der Initiative stark gemindert. „In Europa gibt es eine wahnwitzige Angst vor dem Bürger: Wehe der meldet sich zu Wort, was wird er sagen?“ stellte Häfner fest.
Der Berliner Rechtswissenschaftler Ulrich K. Preuß sprach dann auch von einer mehrfache Krise: Die EU stecke sowohl in einer Legitimations- und Vertrauenskrise, weil keine Abwahl der Politiker auf EU-Ebene möglich sei, als auch in einer kulturelle Krise, in der die nationalen Stereotype verstärkt bedient würden.
Doch wie und ob überhaupt Abhilfe zu schaffen ist, blieb umstritten. Der Mannheimer Politikwissenschaftler Peter Graf von Kielmansegg ist skeptisch. Denn die Grundregel europäischer Demokratie bleibe: „Auf der europäischen Hochebene ist die Luft dünner. Der Sauerstoffgehalt nimmt ab, je höher wir steigen.“ Auch durch institutionelle Arrangements lasse sich der Zusammenhang von Entscheidungen auf europäischer Ebene und schwächerer demokratischer Legitimation nicht einfach auflösen. Das aber bedeute nicht, dass Integration per se abzulehnen sei. Denn auf europäischer Ebene getroffene Entscheidungen könnten gleichwohl für die Bürger sehr sinnvoll sein, vom Kommunalwahlrecht in anderen Mitgliedstaaten bis zur Umweltpolitik, man müsse aber berücksichtigen, dass für Integration ein Preis in Form von größerer Bürgerferne zu zahlen sei.


                Europas vergessene Stärke

Vielleicht war es kein Zufall, dass es einem Amerikaner überlassen blieb, die europäische Integration trotz der Krise aus einem positiveren Blickwinkel zu betrachten. Ähnlich wie in Japan, erklärte Andrew Moravcsik, Professor in Princeton, herrsche in Europa ein pessimistischer Diskurs vor.Europäer selbst stellten Europa häufig als schwach dar, nicht als stark. Dabei würden die Fakten eine andere Sprache sprechen. Denn neben den USA seien momentan die Europäer die einzigen Akteure, die weltweite Entwicklungen wirklich beeinflussen könnten. Und die Europäer verfügten dabei über Politik-Optionen, die den USA fehlten, besonders auf der zivilen Seite der Konfliktbearbeitung, die, wie die Erfahrungen in Afghanistan und Irak gezeigt hätten, von großer Bedeutung seien. Zudem existierten einige Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof nur deshalb, weil die Europäer sie unterstützen und finanzieren würden. Und auch auf militärischem Gebiet seien die Europäer nicht zu unterschätzen. So hätten sie wesentlich den Regime-Wechsel in Libyen erleichtert und unterstützt. Die europäische Krise sei also auch eine Krise der Wahrnehmung – „The crisis is a crisis of ‚Bewusstsein‘“, sagte Moravcsik – denn statt auf Erfolge zu verweisen, stellten die Europäer gerne ihre Schwächen und Mängel heraus, etwa, dass beim Strafgerichtshof die Amerikaner nicht mitmachten und beim Libyen-Einsatz die Deutschen. Mehr Selbstbewusstsein sei nötig, sagte Moravcsik, und forderte die politischen Eliten auf, beim nächsten Termin in Washington zu sagen: „Wir haben diese und jene Fähigkeit, die ihr nicht habt.“

Das vielleicht wichtigste Ergebnis der Konferenz: Europa ist kein Nationalstaat, wird aber laufend an den Fähigkeiten und Kompetenzen von Nationalstaaten gemessen. Vergleicht man die EU aber mit anderen Staatenbünden, wird deutlich, wie erfolgreich die europäische Integration eigentlich ist. Fast auf allen Politikfeldern bestehen Verbesserungsmöglichkeiten, klar. Aber Europa ist nicht nur Krise, sondern, nüchtern betrachtet, auf vielen Feldern ziemlich erfolgreich.

Sonntag, 30. Oktober 2011

Bologna: Tanzen zur Nationalhymne


Klassische Tänze und die Nationalhymne zur Begrüßung – so eröffnete gestern das Gender Bender Festival in Bologna, eines der größten schwul-lesbischen Events in Italien. Der klassische Auftakt ist als ironische Einleitung zu verstehen. Denn das Festival beschäftigt sich kritisch mit der Situation von Lesben und Schwulen in Italien, 150 Jahre nach der Staatsgründung. „So einen Anlass gibt es selten: Das 150-Jährige feiern in einem Moment, in dem es wenig zu feiern gibt“, erklärt Festivalleiter Daniele del Pozzo. Auch der Name der diesjährigen Auflage, „La Traviata Norma“ (die „Vom Weg abgekommene Norm“), bezieht sich doppeldeutig auf die Geschichte des Landes: Komponiert wurde die Oper „La Traviata“, deren Hauptfigur eine Prostituierte ist, von Giuseppe Verdi, selbst ein Symbol der nationalen Einigung. Bis zum 5. November stehen nun vor allem Theateraufführungen und Tänze, aber auch Kinofilme, Lesungen, Diskussionen und Konzerte auf dem Festivalprogramm.

Und richtig gefeiert wurde gestern Abend natürlich auch noch: Der irische DJ Cormac, der beim Berliner Label Bpitch Control Platten veröffentlicht, und Snax aus Berlin, sorgten für Festivalstimmung – die übrigens, wohl ganz im Sinne der Veranstalter, von Lesben, Schwulen und Heteros gemeinsam genossen wurde.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Positionen: Parag Khanna und das „Neue Mittelalter“

Schon ein kurzer Blick in die Zeitungen macht klar: Staaten sind in der Welt von heute nicht die einzigen wichtigen Akteure. Rating-Agenturen urteilen über die Qualität von Staatsschulden, die Steuerzahler müssen  Banken stützen, was selbst manche Staaten an den Rand der Zahlungsunfähigkeit bringt, große Unternehmen können damit drohen, ihre Produktion zu verlagern, um Einfluss auf das Regierungshandeln nehmen. Und in vielen Gegenden der Welt bestehen Staaten nur auf dem Papier: Vom Kongo über Somalia nach Afghanistan. In Europa kooperieren Staaten in der EU, Regionen und Städte arbeiten auch über Staatsgrenzen hinweg zusammen.

Wie lässt sich dieses Chaos fassen und was folgt aus der Vielfalt der Akteure für die Analyse der internationalen Ordnung?

Parag Khanna, der erst 1977 geborene Gründer der Global Governance Initiative bei der New America Foundation, hat in den letzten Jahren die neue Weltordnung mit dem Begriff „Neues Mittelalter“ zu beschreiben versucht. Denn auch im Mittelalter sei die Welt charakterisiert gewesen von einem Nebeneinander verschiedener mächtiger Akteure, erklärte er 2009 in einem Artikel für die Zeitschrift Foreign Policy. Das Mittelalter sei eine Zeit gewesen, „in der Stadtstaaten ebenso viel zählten wie Länder.“

Und ebenso wie das eigentliche Mittelalter sei auch unsere Zeit geprägt von „Angst, Unsicherheit, Seuchen und Gewalt.“ Die neuen Geißeln der Menschheit seien AIDS und SARS, Terror und Piraterie, Zyklone und der steigende Meeresspiegel. Eine Antwort auf diese Herausforderungen sei noch nicht erkennbar – „Die nächste Renaissance ist noch ein gutes Stück entfernt.“

Doch das „Neue Mittelalter“ sei nicht nur negativ zu bewerten. Erstens gebe es ohnehin kein Zurück zum alten zwischenstaatlichen System, und zweitens biete die neue internationale Ordnung auch Chancen. Denn die klassische Diplomatie sei mit modernen Problemen überfordert. Die Welt sei daher zur Lösung drängender Probleme auf nichtstaatliche Akteure angewiesen. Schon heute investieren zum Beispiel Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation Milliardensummen in die Bekämpfung von Krankheiten. Das „Neue Mittelalter“ könne also eine „gute Sache“ sein, meint Parag Khanna. „Bill Gates sitzt mit am Tisch. Die Macht und die Verantwortung von Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen wird auf eine Art anerkannt, die die UN- und staatszentrierte Ordnung nicht zulässt“, bilanzierte er in einem Text für die Website Good.Is.

Nur auf diese Weise ließen sich drängende globale Probleme überhaupt lösen, erklärte Parag Khanna in einem Interview mit Florian Rittmeyer für die Zeitschrift Schweizer Monat. „Wenn wir über die globale Wirtschaft reden, geht es nicht nur darum, dass sich die G-20-Staaten an einem Tisch versammeln. Denn in diesem Fall ist JP Morgan wichtiger als Argentinien. Bei ökologischen Beschaffungsketten und der Reduzierung von CO2-Emissionen ist Wal Mart wichtiger als Irland.“

Freitag, 30. September 2011

Positionen: Desmond Lachman zur Euro-Krise

Lässt sich eine Staatspleite in Europa und eine darauf folgende weltweite Wirtschaftskrise noch verhindern? Desmond Lachmann (Foto, (c) AEI) vom konservativen American Enterprise Institute zeichnet in seinem Aufsatz "A Gathering European Economic Storm" ein recht pessimistisches Bild.

Denn dass ein Staatsbankrott in Europa, das heißt zunächst in Griechenland, vor der Tür steht, erscheint ihm wahrscheinlich. Einerseits mehrten sich in Griechenland die Anzeichen einer Sanierungsmüdigkeit. Zweitens drohe nach wie vor ein Übergreifen der Krise auch auf Spanien und Italien. Und drittens nehme analog zur Sanierungsmüdigkeit in Griechenland die Rettungsmüdigkeit in Deutschland, Finnland, den Niederlanden und Österreich zu. Als ob das nicht genug wäre, drohe sich auch noch das Wirtschaftswachstum in ganz Europa abzuschwächen. 

Da zugleich die eigentlichen Ursachen der Krise, nämlich die großen Ungleichgewichte in den Handelsbilanzen, nur schwer zu korrigieren seien, und die Sparmaßnahmen die Rezession weiter anfachen, wird das Vertrauen in den europäischen Bankensektor geschwächt, der stark in Staatsanleihen auch der Krisenländer investiert hat. Dies ist nach Lachmans Ansicht auch der eigentliche Zweck der bisherigen Rettungsmaßnahmen: Die Euroländer versuchen, eine Krise des Bankensektors zu verhindern, indem sie die Krisenländer stützen und so den Abschreibungsbedarf der Banken verringern. Da allerdings unklar ist, wie lange die Euro-Länder dies politisch und wirtschaftlich durchhalten werden, insbesondere, wenn auch die größeren Volkswirtschaften Spanien und Italien betroffen wären, hätten einige Banken schon heute Schwierigkeiten, sich auf dem Kapitalmarkt zu finanzieren.

Aus einer Krise des europäischen Bankensystems könne sich indes, ähnlich wie 2008 nach der Pleite der amerikanischen Bank Lehman Brothers, schnell eine weltweite Wirtschaftskrise entwickeln.

Dienstag, 20. September 2011

Wachstum als Lösung für Griechenlands Schuldenproblem?

Kann Griechenland durch Wirtschaftswachstum einen Ausweg aus der Schuldenkrise finden? Während einige Ökonomen wie Jeffrey Sachs davon ausgehen, dass ein Wirtschaftswachstum von etwa 3 Prozent pro Jahr in den nächsten zwei Dekaden den griechischen Schuldenberg deutlich unter die Schwelle von 100 Prozent der jährlichen Wirtschaftleistung drücken könnte, ernüchtert eine Analyse von Daniel Gros (Foto, (C) CEPS), Thomas Barnebeck Andersen und Mikkel Barslund vom Centre of European Policy Studies. Die Autoren gehen davon aus, dass "Griechenland vor einer enormen Aufgabe steht, um aus der Schuldenbelastung herauszuwachsen."

Die Autoren nennen mehrere Gründe für ihre Schlussfolgerung: Erstens belasten die Sparmaßnahmen der Regierung das Wachstum noch für längere Zeit. Zweitens ähnelt die demographische Entwicklung Griechenlands der anderer westlicher Staaten: Die Zahl der Kinder nahm und nimmt ab, die Zahl der älteren Menschen steigt. Das bedeutet, dass immer weniger Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, wodurch das Wirtschaftswachstum zusätzlich gebremst wird. Selbst wenn das griechische Wirtschaftswachstum sich wieder so entwickele wie zwischen 1970 und 2004, entspreche dies angesichts des demographischen Wandels nur noch einem Wachstum von etwa 2 Prozent.

Noch verschärft wird die Krise, so die Autoren, weil das griechische Wirtschaftswachstum bisher vor allem aus dem Bereich des Einzel- und Großhandels sowie der Bauwirtschaft stammte. Gerade diese Bereiche litten aber nun besonders unter den Sparmaßnahmen. Handelsgüter wie Rohstoffe, landwirtschaftliche Güter oder industrielle Erzeugnisse haben in der Zeit von 2000 bis 2009 kaum zum Wachstum beigetragen (das Wachstum betrug in diesem Sektor über den gesamten Zeitraum nur 9 Prozent im Vergleich zu einem Wachstum von 40 Prozent im Dienstleistungsbereich). Außerdem ist dieser Bereich der griechischen Wirtschaft insgesamt vergleichsweise klein - er entspricht nur einem Viertel des Dienstleistungssektors.

Mittwoch, 13. Juli 2011

Italien im Fokus der Finanzmärkte: Eine Presseschau

Datei:1 euro coin It serie 1.pngMit dem Kurssturz italienischer Staatsanleihen seit Freitag ist auch Italien zumindest zeitweise in den Fokus der wegen der Euro-Krise nervösen Finanzmärkte geraten. Die Zinsen, die der italienische Staat bei der Ausgabe neuer Anleihen zu zahlen hat stiegen ebenso wie die Preise für Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps, CDS) ("Investoren zwingen Italien Rekorszinsen auf", "Investoren fürchten italienischen Schulden-GAU"). Für die Euro-Zone wäre eine Pleite Italiens aufgrund der Größe der italienischen Volkswirtschaft katastrohal. Entsprechend aufgeregt wurde in den Medien diskutiert. Hier eine kleine Presseschau:


Mit der Psychologie der Finanzmärkte beschäftigt sich bei Spiegel Online Stefan Kaiser in seinem Beitrag "Finanzmärkte im Herdentrieb". Er unterscheidet zwei Gruppen von Investoren: Anleger, die italienische Staatsanleihen besitzen und diese aus Angst vor einer möglichen Pleite verkaufen wollen, und Anleger, die meist keine Staatsanleihen besitzen und durch Leerverkäufe und Credit Default Swaps vom Kurssturz profitieren wollen.

Die Gründe für die Zuspitzung der Krise untersuchen in der Financial Times Deutschland ("Die Gründe für die italienische Krankheit") Kai Beller und Barbara Schäder. Darunter: "Politische Agonie", ein "Schuldenberg", und die "lahmende Konjunktur".

In der Süddeutschen kritisiert Ulrike Sauer unter dem Titel "Heiße Tage in Rom" das Krisenmanagement der italiensichen Regierung: "Die Zuspitzung der Euro-Krise schärfte in Rom nicht im geringsten das Bewusstsein für die Bedrohung."

Michael Braun vermutet in seinem Artikel "Berlusconis letztes Gefecht" bei Spiegel Online, dass Ministerpräsident Silvio Berlusconi sich nicht mehr lange im Amt halten dürfte, wenn Italien weiter von den Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten durchgeschüttelt werde. Überhaupt sei die Politik das Hauptproblem: Weniger wegen der Höhe der italiensichen Staatsschulden, und mehr, weil es die Politik nicht schaffe, für Wachstum zu sorgen: "Eine Politik, die schlingert und laviert, ein Land, das strukturelle Wachstumsprobleme hat: seit Jahren schon stagniert Italien, auch nach der Krise liegen die Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts bei einem schmalen Prozent jährlich."

Im Interview meint Hans-Peter Burghof, Äußerungen von Silvio Berlusconi, der sich nicht voll hinter das Sparprogramm seines Finanzministers Giulio Tremonti stellte, hätten zur Verschärfung der Krise beigetragen.

Ähnliche Ansichten, das nämlich die "politische Schwäche" in Italien zum Problem werde, hat Andre Tauber in der Welt ("Vergiftete Politik ist Italiens größtes Krisen-Risiko") aus der Ratingagentur Moody's gehört.

Auch Regina Krieger berichtet im Handelsblatt ("Italiens Regierung kann interene Risse kaum verbergen") über die inneren Konflikte in der italienischen Regierung, vor allem zwischen Berlusconi und Tremonti und zitiert aus der italienischen Presse.

Massimo Franco geht im Corriere della Sera ("Una fiaccola nel buio") hart mit Berlusconi und dessen langem Schweigen im Angesicht der sich aufbauenden Krise ins Gericht: "Il risultato è stato quello di mostrare un governo incapace di «leggere» la sfida aggressiva dei mercati e le sue distorsioni destabilizzanti; e una classe politica costretta, per assenza di strategia, a subire l'iniziativa altrui."

Ähnlich kritisch, wenn auch mit optimistischen Schluss, analysiert Marcello Sorgi in der Stampa die Situation ("La paura che ha smosso il Cavalliere"): Berlusconi, so hofft Sorgi, habe aus den Turbulenzen am Wochenende gelernt und werde in Zukunft schneller reagieren.

Die widersprüchlichen Äußerungen aus den Reihen europäischer Spitzenpolitiker kritisiert derweil Christoph B. Schiltz in der Welt ("Europas Angst vor dem großen Euro-Knall").

Stephen Castle und Jack Ewing berichten in der New York Times ("In Europe, an Outline of Options") über die politischen Handlungsmöglichkeiten, die jetzt auf dem Tisch liegen.

"Vier Szenarien für die Zukunft des Euro" entwickelt Tobias Kaiser in der Welt: "Chaos - wie bisher", "Der Rettungsschirm wird verdoppelt", "Griechenland schuldet um" und "Die Euro-Zone bricht auseinander".

In seinem Beitrag "Sein oder Nicht-Sein? Das ist jetzt die Euro-Frage!" kritisiert Henrik Müller bei Spiegel Online: "Fallweise werden die gerade auftretenden Probleme bearbeitet, ohne dass dahinter eine größere, umfassendere Idee sichtbar würde." Er meint: "Diese Problemlawine hat nichts mit Ökonomie zu tun, sondern vor allem mit dem schwachen politischen Zusammenhalt und dem mangelnden Wir-Gefühl in Europa." Als Alternative zum Scheitern der Euros sieht er nur einen "New Deal": Eine gemeinsame Haftung für Staatsschulden und etwas Umverteilung innerhalb der Euro-Zone, zum Beispiel durch eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung. Zudem plädiert er für die Stärkung der EU-Institutionen, anstatt ständige neue Institutionen wie den ESM zu schaffen.

In der Stampa ("Le mosse non più rinviabili") fordert Franco Bruni (Universität Bocconi in Mailand), erstens das italienische Sparpaket in Teilen vorzuziehen, zweitens realistische Zielvorgaben aus Brüssel und drittens insgesamt eine stärkere Identitifkation mit Europa: Mehr Integration in Wirtschafts-, Währungs-, Finanz- und Politikfragen.

Nicht alle Marktteilnehmer sind indes von einer drohenden Pleite Italiens überzeugt. Pimco, der weltgrößte Anleihenhändler nutzte die sinkenden Kurse für Käufe ("Top-Investor Pimco deckt sich mit italienischen Anleihen ein").

Und Carsten Volkery berichtet im Spiegel ("Italien wappnet sich gegen das Griechen-Virus"), warum Italien trotz aller Probleme mit den anderen Euro-Krisenstaaten nicht zu vergleichen sei: Die Wirtschaft sei groß und diversifiziert, die Sparquote sei hoch und der Anleihemarkt groß und liquide.

Dienstag, 12. Juli 2011

Wie weiter mit der griechischen Schuldenkrise?

Um eine weitere Eskalation der griechischen Schuldenkrise zu verhindern, schnürt die griechische Regierung ein Sparpaket nach dem nächsten und bereitet die Privatisierung zahlreicher Staatsbetriebe vor, während europäische Regierungen und der Internationale Währungsfonds (IWF) neue Milliardenkredite beschließen. Doch bislang zeigen die Maßnahmen keine nachhaltige Wirkung. Der ehemalige amerikanische Botschafter in Griechenland, Daniel V. Speckhard, schlägt nun in einem Paper des amerikanischen Think Tanks Brookings Institution ("Greece: Time for Some New Ideas") einen neuen Ansatz vor.

Anstatt die europäischen Milliarden direkt an die griechische Staatskasse zu überweisen, sollte das Geld lieber in die zu privatisierenden griechischen Staatsbetriebe investiert werden: Europa würde damit zum neuen Eigentümer dieser Unternehmen. Dies würde für die griechische Staatskasse unmittelbare Einkünfte bedeuten (und keine neuen Kredite), während zugleich die Gefahr sinken würde, durch übereilte Privatisierungen Staatsbetriebe unter Wert zu verkaufen. Außerdem könnten derartige Investitionen in Nordeuropa leichter durchsetzbar sein. Doch damit würde die griechische Gesamtschuld noch nicht sinken, sondern nur neue Kredite verhindert. Um die Gesamtschuld zu senken, schlägt Speckhard vorsichtig gemanagte Rückkaufprogramme griechischer Staatsanleihen vor. Die Staatsanleihen werden momentan deutlich unter dem Nennwert gehandelt. Für diese Rückkaufprogramme könnten die Kreditlinien der EU und des IWF genutzt werden. Speckhard gibt zu, dass auch nach diesen Programmen wahrscheinlich eine "sanfte Umschuldung" nötig sein werde, doch werde für den Augenblick vor allem ein Programm gebraucht, dass sowohl in Griechenland wie auch in Rest-Europa bei den Wählern auf Zustimmung stoße. Ansonsten drohe in Griechenland eine unkontrollierte Staatspleite und damit einhergehende soziale Spannungen.

Inwiefern der Vorschlag umsetzbar ist, bleibt schwer abschätzbar. Schwierig könnte es insbesondere sein, einen fairen Wert der Staatsunternehmen zu ermitteln. Aber neue Ideen sind in der gegenwärtigen verfahrenen Lage wohl mehr als nötig.

Donnerstag, 26. Mai 2011

Berlin: Harte Worte bei Sudan-Diskussion


Auf den ersten Blick dominierten die unversöhnlichen Töne zwischen den Vertretern Nord- und Südsudans bei einer Diskussionsveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin am Mittwoch. Unter dem Motto "Sudan nach dem CPA - Chancen und Herausforderungen für Nord und Süd" hatten die Organisatoren wenige Wochen vor der geplanten Unabhängigkeit des Südens am 9. Juli fünf Persönlichkeiten aus Politik und Zivilgesellschaft Sudans eingeladen. Das ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt auch der Konflikt in Abyei, einer zwischen Nord und Süd gelegenen und umstrittenen Region eskalieren würde, konnten die Veranstalter da noch nicht wissen. Doch gerade beim Thema Abyei redeten sich die Protagonisten in Rage.

"Khartum hat das CPA verletzt", sagte Francis Nazario, der Leiter der südsudanesischen Mission in Brüssel, und setzte hinzu: "Wir verlangen, dass sich Khartum aus Abyei zurückzieht." Qutbi Elmahdi von der nordsudanesischen Regierungspartei NCP sah stattdessen den Süden in der Verantwortung für den Gewaltausbruch: "Die SPLF [die südsudanesische Armee] hat die Joint Forces und die Vereinten Nationen angegriffen. Die SPLM [die südsudanesische Regierungspartei] ist, unser Abkommen brechend, in Abyei einmarschiert. Daher hatte die sudanesische Regierung keine andere Wahl als selber in Abyei zu intervenieren. Das Ziel war, die Sicherheitssituation dorthin zu bringen, wo sie vorher [vor dem angeblichen Einmarsch des Südens] war."

Beide Seiten betonten allerdings auch ihre Bereitschaft, weiter auf Grundlage des Friedensabkommens zusammenzuarbeiten. Und Qutbi Elmahdi erklärte: "Wir haben viel zusammen erreicht; wenn es jetzt Probleme gibt, dann weil wir aus einem langen Krieg kommen und noch nicht genügend Zeit hatten, ausreichend Vertrauen aufzubauen."

Doch noch steht die Artillerie in Abyei, noch sind viele Bewohner offenbar auf der Flucht und noch ist unklar, ob Nord- und Südsudan tatsächlich den Willen haben, ihre Konflikte friedlich zu lösen.

Auf dem Foto von links nach rechts: Niemat Kuku (Direktorin des Gender Centers for Research and Training, Khartum), Francis Nazario (Leiter der Mission der Regierung des Südsudan in Brüssel), Moderator Jürgen Langen (Deutsche Afrika-Stiftung), Qutbi Elmahdi (Leiter des Organisationssekretariats der NCP), Al Sadig Al Mahdi (Vorsitzender der National Umma Party und ehemaliger Ministerpräsident), Makki Balail (Vorsitzender der Justice Party.

Donnerstag, 19. Mai 2011

Berlin: Spanishrevolution vor der Botschaft

Gut 200 Demonstranten, die meisten jung, die meisten aus Spanien, haben heute vor der spanischen Botschaft die Protestbewegung Democracia Real Ya! (Wahre Demokratie jetzt!) unterstützt, in deren Namen in den vergangenen Tagen Tausende auf Spaniens Plätzen protestiert hatten. In Spanien richten sich die Demonstrationen gegen ein als verkrustet empfundenes Parteiensystem, das mit der schweren Wirtschaftskrise nicht fertig wird, in deren Folge viele Spanier arbeitslos wurden. Besonders junge Menschen haben große Schwierigkeiten, überhaupt einen Job zu finden, viele gut ausgebildete Spanier wandern aus.

In Berlin drückten die Demonstranten einerseits ihre Unterstützung für die Proteste in Spanien aus, forderten andererseits aber auch Solidarität von den Berlinern ein. Denn die Orientierung an den Grenzen der Nationalstaaten wurde oft als überholt empfunden, zumal de Wirtschaftskrise ohnehin globale Folgen hat. Für Ärger bei den Protestierenden sorgten auch die Äußerungen Angela Merkels, die behauptet hatte, Südeuropäer würden weniger arbeiten als die Menschen in Nordeuropa.

Dienstag, 17. Mai 2011

Bergamo: Wie "hart" ist die Lega?

Der Chef der italienischen Partei Lega Nord, Umberto Bossi, weiß, wie man in die Zeitungen kommt: nämlich mit markigen Sprüchen. "La Lega ce l'ha duro" behauptete er in den 1990ern, übersetzen könnte man das mit "Die Lega hat ihn hart". Dazu passt, dass die Lega Nord als rechtspopulistische Partei gern gegen Migranten Stimmung macht und sich nach außen als kompromisslose Vorkämpferin der Interessen Norditaliens gibt. Bei den Kommunalwahlen in einigen Städten und Provinzen lieferte der Bossi-Spruch aber auch den Parteien der linken Mitte Wahlkampfmunition. Denn die Lega unterstützt die Regierung Berlusconis in Rom und versucht, eine Justizreform durchzuführen, die kürzere Prozesszeiten vorsieht. Kritiker meinen, dies sei vor allem ein Anliegen Berlusconis, der auf diese Weise durch Verjährung in den ihn betreffenden Gerichtsverfahren freigesprochen werden könnte. Das passt freilich gar nicht zum Law-and-Order-Auftreten der Lega. Genau diesen Widerspruch machte auch der Partito Democratico aus der linken Mitte zum Thema: Gar nicht hart ist die Lanze der Lega auf dem Wahlkampfplakat. Die Wähler sahen das Engagement der Lega ebenfalls kritisch. Sowohl Berlusconis Partei Popolo della Libertà als auch die Lega Nord haben bei den Wahlen am Sonntag und gestern Niederlagen einstecken müssen.

Donnerstag, 5. Mai 2011

Berlin: Prunk bis zuletzt


Nicht alle Gräber auf dem Schöneberger Alten St.-Matthäus-Kirchhof sind schlicht; im Gegenteil. Einige, wie die Ruhestätte der Familie Hansemann, sind kleine Paläste - für Max Goldt der eigentliche "claim to fame" des Friedhofs. Und auch das hier fotografierte Grabmal von Carl Bolle ist nicht gerade zurückhaltend. Es wirkt fast wie eine Trutzburg mit den hohen, massiven Mauern, dem spitzen Giebel über dem Portal und den angedeuteten Zinnen. Carl Bolle wurde in Berlin berühmt für seinen Milchhandel- er verkaufte seine Milch mit Wagen in der Stadt und brachte sie so direkt zu den Kunden. Das Geschäft lief bald so gut, dass er Milch aus einem Umkreis von 200 Kilometern kaufte und mit 250 Milchwagen in Berlin anbot. Heute geht die Supermarktkette Bolle auf den Milchverkäufer zurück.

Mittwoch, 4. Mai 2011

Berlin: Ewige Ruhe zwischen S-Bahn-Gleisen

Die Gräber von Jacob und Wilhelm Grimm sind nur zwei aus einer ganzen Reihe von Prominenetengrabstätten auf dem Alten St.-Matthäus Kirchhof. Der Friedhof liegt in Schöneberg zwischen den S-Bahn-Gleisen Richtung Wannsee und der Strecke nach Südkreuz. Doch von Hektik ist hier nichts zu merken. Stattdessen strahlen die vielen alten meist sehr schlicht gehaltenen Gräber unter den alten Bäumen Ruhe aus - und nehmen den Besucher mit ins 19. Jahrhundert zum Arzt Rudolf Virchow, den Historikern Georg Waitz und Heinrich von Sybel und vielen anderen.


Freitag, 29. April 2011

Berlin: Die Hochzeit

Da ist ans Arbeiten natürlich nicht zu denken... Und auch auf Facebook kein Kommentar, der nicht die Hochzeit zum Thema hat!

Sonntag, 24. April 2011

Berlin: Frühlingshafte Ostern


Ein herrlicher, frühlingshafter Ostersonntag in Berlin. Die Temperaturen steigen bis auf 22 Grad, der Wind weht leicht. Uferböschungen wie diese an der Spree gegenüber vom Schloss Bellevue (rechts im Hintergrund) in Moabit werden schnell in Beschlag genommen - von musizierenden Freunden, grillenden Kollegen, knutschenden Paaren. Der Frühling könnte ewig andauern - wer braucht schon den Winter?

Samstag, 23. April 2011

Berlin: Feuer vorm Schloss


Kaum wird es warm in Berlin, ziehen die Menschen mit Grill und Kohle in die Parks, um sich Lammkotelett und Bratwurst munden zu lassen, so wie hier vor dem Schloss Bellevue im Tiergarten. Das ergibt schon einen ziemlich lässigen Anblick: Vor der Repräsentanz des Staatsoberhaupts nutzen die Bürger den Park, um sich einen schönen sonnigen Tag zu machen. Trotz der Kosten für kaputten Rasen und die Beseitigung liegengebliebenen Abfalls werden Pläne, auch im Tiergarten ein Grillverbot auszusprechen, hoffentlich nicht weiterverfolgt. Sonst ist der Rasenstreifen vor dem Schloss bald zwar sauber, aber auch menschenleer - und Berlin noch eine Besonderheit ärmer.

Freitag, 22. April 2011

Berlin: Schimpfwort oder Kosename?


In Deutschland ist es eine alte Tradition, Fahrzeuge aller Art persönlich zu markieren. Der Mitteklassewagen erhält ein Kennzeichen der Art Stadt - Initialien - Geburtstag (B:XY 1904) und Brummifahrer hängen ihr Namensschild von innen an die Windschutzscheibe (gerne auch bunt erleuchtet). Aber ob die freundliche Bezeichnung "Photze" an diesem Bagger in Berlin-Mitte auf den Besitzer oder Fahrer hinweist? Oder hat hier ein Verkehrsteilnehmer seinen Unmut darüber auslassen wollen, dass der Bagger wertvolle Parkplätze blockiert? Vielleicht aber ist in den sechs Buchstaben auch ein verzweifelter Appell an die Kultusminister zu lesen, der Rechtschreibung in den Schullehrplänen endlich mehr Raum zu geben.

Montag, 18. April 2011

Berlin: Tacheles-Ost und Tacheles-West


Ost und West sind wieder da. Nachdem in den letzten Wochen die Zukunft des Kunsthauses Tacheles unberechenbarer denn je wurde - eine lange angekündigte Versteigerung des Hauses wurde in letzter Minute abgesagt, dann verließ eine der untereinander zerstrittenen Bewohnerfraktionen des Hauses , die sogenannten Gastronomen, die unter anderem die Bar Zapata betrieben, gegen eine Zahlung von angeblich 1 Mio. Euro das Tacheles. Anschließend wurden zunächst die aufgegebene Räume verschlossen, dann der Krötenteich hinter dem Haus planiert und eine Mauer im Torbogen des einstigen Kaufhauses hochgezogen. Gegen die wurde nun gestern demonstriert. Da liegen Sprüche wie "Die Mauer muss weg" natürlich nahe.

Mittwoch, 13. April 2011

Rom: Barocke Windungen


Spektakulär schraubt sich die Kuppel der römischen Universitätskirche S. Ivo alla Sapienza in die Höhe. Die Kirche gilt als Meisterwerk Francesco Borrominis, und die Kirche als eine der schönsten barocken Kirchen in Rom - an denen die Stadt gewiss nicht arm ist. Schön auch der Kontrast zwischen barockem Schwung und der modernen, geometrisch zurückhaltenden Skulptur im Vordergrund.

Wie aufgeräumt und "normal" Rom doch wirkt, trotz aller außergewöhnlichen architektonischen Schönheit, nach dem eher chaotischen und brodelnden Neapel!

Kleiner Lesetipp für eine Einführung in die barocke Kunst: Sabine Burbaum: Kunst-Epochen, Band 8, Barock. Reclam-Verlag (7,60 Euro).

Montag, 4. April 2011

Neapel: Willkommen - und Fuck you!


In einem von außen hübschen, von innen aber atemberaubend schönen Haus residiert das Goethe-Institut in Neapel, das sich der deutsch-italienischen Kulturarbeit widmet. Zwei Treppen führen seitlich in einem Kuppelbau nach oben, über eine Treppe gelangt man auf jeder Etage zu den einzelnen Wohnungen und Büros. Statuen begrüßen die Besucher. Begrüßen? Nun ja! Dieser Statue wurden an der ausgestreckten Hand die einzelnen Finger so abgeschlagen, dass nur der ausgestreckte Mittelfinger übrig blieb. Willkommen in Neapel!

Samstag, 2. April 2011

Neapel: Der natürliche Zweck der Mauer

Wozu gibt es eigentlich Mauern? Klar, einerseits könnte ohne Mauern jeder ins gemütliche private Wohnzimmer schauen. Aber von außen? In Neapel fällt die Antwort leicht: Mauern sind Teil des öffentlichen Diskursraums. Und wie dieser Sprayer meint: Erst wenn Mauern für Äußerungen genutzt werden, erfüllen sie ihren eigentlichen Zweck. Er (oder sie) schreibt deshalb: "Gli muri puliti sono inutili" - "Die sauberen Mauern sind sinnlos".

Nochmal Dank an Matts fürs Fotografieren!

Freitag, 1. April 2011

Neapel: Die überraschende Mauer


"Hey, un muro senza scritte" - "Hey, eine Mauer ohne Schrift" stellte der Urheber dieses Graffitis in Neapel überrascht fest. Und ging direkt ans Werk, diesen unhaltbaren Zustand zu beenden. Trotzdem ist die Wand wahrscheinlich immer noch die unbeschriftetste der ganzen Stadt...

Dienstag, 29. März 2011

Neapel: Leere Augen, leerer Kopf?


"Vuoto" - "leer" steht diesem Kopf ins Gesicht geschrieben. Die nur halb geöffneten Augen blicken ins Nirgendwo, ein Lächeln gibt's dennoch, aber es bleibt emotionslos und distanziert. Viele andere Porträts gleicher Art (etwa mit der Aufschrift "Coca") finden sich in Neapel verteilt, wie die Stadt generell fast von oben bis unten bedeckt ist mit kritischen Graffitis, politischen Zeichnungen oder auch romantischen Liebesschwüren. Zumindest auf die Street Art-Szene trifft die Kritik der gedanklichen Leere also schonmal nicht zu!

Interessant ist, dass diese Zeichnung nicht einfach auf die Wand gesprüht wurde. Stattdessen ist das Gesicht offenbar auf eine Landkarte gemalt worden, die dann an die Hauswand geklebt wurde.

Dank an Matts fürs Fotografieren!

Sonntag, 27. März 2011

Berlin: Atomkraft abschalten all'italiana


120.000 Menschen demonstrierten gestern für das Ende der Atomkraft in Deutschland - und darüber hinaus. Denn neben vielen anderen Initiativen forderten auch amerikanische oder - wie hier - italienische Berliner: AKWs gehören abgeschaltet.

Dienstag, 15. März 2011

Berlin: Die Quartiers-Aufwertung hinterlässt Lücken


Die Aufwertung von städtischen Bezirken, die zuvor einen schlechten Ruf hatten, füllt einige Lücken: Cafés eröffnen, Bio-Supermärkte und die eine oder andere Bar. Auf der anderen Seite reißt eine solche Aufwertung aber auch manch unerwartete Lücke. Wie hier in Moabit: Im leeren Rahmen vor der Toreinfahrt wies bis vor kurzem ein dauerhaft installiertes Schild auf freie Wohnungen hin. Solche Werbung ist offenbar nicht mehr nötig, Wohnungen lassen sich leichter vermieten, ständige "Zu Vermieten!"-Schilder haben ausgedient. Mal sehen, welches Schild demnächst diese Lücke füllen wird...