Für die Künstlerinnen und Künstler, die in den verschiedenen Veranstaltungen zu sehen waren, von Konzerten über Tanz und Theater bis zu Lesungen und Film, war der Zustand der italienischen Gesellschaft allerdings vor allem ein Ansporn, sich kritisch mit dem Umgang von Schwulen und Lesben und den Geschlechterverhältnissen in Italien auseinanderzusetzen.
So wiesen die Sieger der Gender Bender Jukebox-Competition, die Band „Armoteque“, auf die unbefriedigende Situation von Frauen in Italien hin, die viel zu selten gesellschaftliche Machtpositionen einnehmen würden. Die zweitplatzierte Gruppe, „Ménage à Trois“ nutzte ihren Auftritt für eine Demonstration auf der Bühne, um zu fragen, ob junge Italiener nicht „verrückt“ seien, noch in Italien zu bleiben. An zwei Abenden wurde Cristian Ceresolis äußert Italien-kritischer Monolog „La Merda“ aufgeführt. Die nur einminütige Perfomance „Troca“ von Marta Dell’Angelo und Márcia Lança macht die Geschwindigkeit deutlich, mit der sich die Dinge manchmal ändern können. Im Rahmen des umfangreichen Kinoprogramms war unter anderem die Dokumentation „Too much Pussy“ zu sehen, die weibliche Sexualität positiver darstellen möchte, als dies normalerweise passiert. Und Lidia Ravera kritisierte bei der Präsentation ihres Buches „Piccoli Uomini“ die Degradierung der Frauen durch die politische Klasse Italiens zu Objekten und suchte es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen – die meisten männlichen Politiker kamen dabei nicht allzu gut weg. Thematisiert wurden darüber hinaus in anderen Veranstaltungen unter anderem die Wahrnehmung des weiblichen Körpers in der Mediengesellschaft und die Situation von Regenbogenfamilien, da schwulen und lesbischen Paaren die Adoption von Kindern verboten ist. Neben all der anstrengenden inhaltlichen Diskussion wurde natürlich auch gefeiert.
Eine Woche Gender Bender zeigt vor allem das Bild eines anderen, offenen Italiens, das mit dem eigenen Land oft sehr hart und sehr kritisch ins Gericht ging. Es bleibt die Frage: Bringt das irgendetwas? Eine kritische Zivilgesellschaft gibt es in Italien schon sehr lange, die Gegenkultur, die „controcultura“, ist in Italien kein neues Phänomen. Doch trotz dieser großen, lebendigen und kritischen Zivilgesellschaft blieb die gesellschaftliche Modernisierung Italiens in den letzten zwanzig Jahren aus. Daniele del Pozzo, der künstlerische Leiter des Festivals, sprach sogar von „Rückschritten“. Auch die Künstlerinnen und Künstler erklärten immer wieder, Italien lebe zu sehr in der Vergangenheit und konzentriere sich zu wenig auf die Zukunft, ähnlich einer alternden Diva, die in Gedanken bei ihren glorreichen alten Zeiten sei.
Daniele del Pozzo und Elisa Manici, die Organisatoren des Festivals, zeigten sich dennoch überzeugt, dass das Gender Bender-Festival einen Unterschied machen könne. Selbst diejenigen, die sich bereits mit den Zielen des Festivals für mehr gesellschaftliche Liberalisierung identifizieren würden, bekämen neue Ideen und würden sich unerwarteten Impulsen ausgesetzt sehen. „Es ist gut, wenn man von einer Sache überzeugt zum Festival anreist und dann mit Zweifeln wieder abfährt“, meint Daniele del Pozzo. Zudem erreiche das Festival viele Menschen, die sich sonst wahrscheinlich selten mit Fragen von Diskriminierung und Chancengleichheit von Schwulen, Lesben und Frauen auseinandersetzen würden. 40 Prozent des Publikums sind heterosexuell, haben die Organisatoren mit Fragebögen herausgefunden. 55 bis 60 Prozent sind Frauen, das Alter der Besucher reicht von 18 bis 75 Jahren. „Bei den Theatervorstellungen erreichen wir beispielsweise ein Publikum, das sonst nicht ins Theater geht“, sagt Daniele del Pozzo. „Ich glaube zwar nicht, dass eine homophobe Person zu unseren Veranstaltungen kommt“, meint Elisa Manici. „Aber ich denke, was wir hier seit Jahren machen, hat mittelfristig Effekte. Das heißt, wir haben bewusst entschieden, uns nicht zu ghettoisieren oder zu verstecken. Das bringt durchaus Risiken mit sich, etwa für Leute, die nicht offen mit der schwulen oder lesbischen Szene identifiziert werden wollen. Aber gleichzeitig machen wir uns überall in der Stadt bemerkbar.“ Im Laufe der Jahre würden so alternative Standpunkte in der breiteren Bevölkerung bekannt und diskutiert.
Ob Italien, diese alternde, aber nach wie vor bezaubernde Diva, die Selbstreflexionen zur Erneuerung tatsächlich nutzt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen, wenn eine alte Politikerkaste (die meisten führenden Politiker sind um die 70 Jahre alt) langsam abtritt. In der Zwischenzeit bereiten die Organisatoren das nächste Gender Bender Festival vor, im Oktober 2012, in Bologna.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen