Aus dem Blickwinkel der Organisatoren hätte der Zeitpunkt wahrscheinlich nicht besser gewählt werden können: Auf dem Höhepunkt der Verhandlungen über ein neues Euro-Rettungspaket veranstaltete die Heinrich Böll Stiftung in Berlin eine Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union (Foto: (c) Heinrich Böll Stiftung, Flickr). Während also draußen Angela Merkel ihre Regierungserklärung absagte und der Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs verschoben wurde, diskutierten am 19. und 20. Oktober die Konferenzteilnehmer unter dem Motto „Solidarität und Stärke“ die Ergebnisse der Arbeit einer Expertenkommission, die sich ein Jahr lang mit der Zukunft der EU beschäftigt hatte. Immer mal wieder blitzte die politische Wirklichkeit in die Konferenzräume. „Hat hier jemand ein I-Phone?“ fragte Moderatorin Miriam Janke, als während der Abschlussdiskussion auf einmal, zunächst als Gerücht, die Meldung durch die Reihen ging, dass der Euro-Rettungsgipfel verschoben sei. Konferenzteilnehmer, Zuschauer und Abgeordnete begannen hektisch, über ihre Touschscreens zu wischen.
Drei Themen stachen aus den vielen Diskussionsrunden heraus: Natürlich die Frage der Wirtschafts- und Währungsunion, dann die Bedeutung der europäischen Demokratie und schließlich – sicher am überraschendsten – ein Hinweis von Andrew Moravcsik auf Europas (vergessene) Stärke.
Solidarität – aber mit wem?
Dominant waren von Anfang an Diskussionen um Stand und Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion. Ralf Fücks, der zu Beginn der Konferenz die Ergebnisse der Expertenkommission skizzierte, nannte die No-Bail-Out-Klausel der europäischen Verträge, die die gemeinsame Haftung der Euro-Staaten für Staatsschulden ausschließt, eine „Lebenslüge“ und forderte das Zusammengehen von Währung und Haftung. Die Kommission unterstützte denn auch Eurobonds, wenn auch nicht einstimmig. Da zugleich die Divergenz der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften auf Dauer die gemeinsame Währung untergrabe, seien generell mehr Wachstum und in diesem Zusammenhang auch Investitionsprogramme nötig. Die komplexen Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion boten genug Anlass auch für kritische Positionen. So provozierte der Schwede Mats Persson, Direktor des wirtschaftliberalen Think Tanks Open Europe, mit der Frage, was denn eigentlich gemeint sei, wenn nun allenthalben nach Solidarität gerufen werde. Seine Analyse: Die geforderte Solidarität solle auch dazu dienen, jenen, die bisher schon eher auf der Gewinnerseite standen, nun Einschnitte zu ersparen. Zum Beispiel dadurch, dass in manchen südeuropäischen Ländern der Arbeitsmarkt so unflexibel sei, dass einmal angeheuerte Arbeitnehmer kaum entlassen werden könnten, während andererseits junge Arbeitslose deshalb wenn überhaupt nur prekäre Verträge bekämen. Und in Nordeuropa profitierten nicht zuletzt die Banken, die auf Kosten der Steuerzahler wieder einmal von Verlusten befreit würden. Da die Mehrheit der Bürger – im Norden wie im Süden – vor allem Kosten präsentiert bekämen, ließen sich leicht Stereotype über den jeweils anderen bedienen.
Demokratie: „Auf der europäischen Hochebene ist die Luft dünner“
Wie die Demokratie auf europäischer Ebene gestärkt werden könne war ein zweites Thema, dass sich ebenfalls durch viele Veranstaltungen zog. Die von Ralf Füchs vorgestellten Empfehlungen der Expertenkommission versammelten gleich eine ganze Reihe von Wünschen. Denn die Kluft zwischen Eliten und Bevölkerung in den Mitgliedstaaten wachse und dem Projekt der europäischen Integration drohe ein Akzeptanzverlust. Als Antwort auf diese Herausforderung formulierte er: „Mehr Demokratie für Europa wagen“. Dazu zählt die Expertenkommission die Stärkung des Europäischen Parlaments, für das die Bürger europäische Parteien statt wie bisher nationale Listen wählen sollten, das zukünftig befugt sein müsse, Gesetzesinitiativen einzubringen und das entscheidenden Einfluss auf die Bildung der Kommission haben müsse. Der Einfluss der Zivilgesellschaft müsse über die Europäische Bürgerinitiative gesteigert werden.
Doch wie immer liegt auch hier der Teufel im Detail. So machte der grüne Europaabgeordnete Gerald Häfner bei einer Podiumsdiskussion deutlich, dass nicht alle Begehren der Bürger mit der Europäischen Bürgerinitiative auf den Tisch kommen können. Denn die Europäer können nur dann mittels der Bürgerinitiative die Politik zum Handeln auffordern, wenn über dieses Thema bereits auf europäischer Ebene durch die EU-Kommission behandelt worden ist. Dadurch werde, meinte Häfner, der Bürgerwille in den meisten zentralen Politikfeldern wie der Sozialpolitik gleich wieder ausgebremst und der Nutzen der Initiative stark gemindert. „In Europa gibt es eine wahnwitzige Angst vor dem Bürger: Wehe der meldet sich zu Wort, was wird er sagen?“ stellte Häfner fest.
Der Berliner Rechtswissenschaftler Ulrich K. Preuß sprach dann auch von einer mehrfache Krise: Die EU stecke sowohl in einer Legitimations- und Vertrauenskrise, weil keine Abwahl der Politiker auf EU-Ebene möglich sei, als auch in einer kulturelle Krise, in der die nationalen Stereotype verstärkt bedient würden.
Doch wie und ob überhaupt Abhilfe zu schaffen ist, blieb umstritten. Der Mannheimer Politikwissenschaftler Peter Graf von Kielmansegg ist skeptisch. Denn die Grundregel europäischer Demokratie bleibe: „Auf der europäischen Hochebene ist die Luft dünner. Der Sauerstoffgehalt nimmt ab, je höher wir steigen.“ Auch durch institutionelle Arrangements lasse sich der Zusammenhang von Entscheidungen auf europäischer Ebene und schwächerer demokratischer Legitimation nicht einfach auflösen. Das aber bedeute nicht, dass Integration per se abzulehnen sei. Denn auf europäischer Ebene getroffene Entscheidungen könnten gleichwohl für die Bürger sehr sinnvoll sein, vom Kommunalwahlrecht in anderen Mitgliedstaaten bis zur Umweltpolitik, man müsse aber berücksichtigen, dass für Integration ein Preis in Form von größerer Bürgerferne zu zahlen sei.
Europas vergessene Stärke
Vielleicht war es kein Zufall, dass es einem Amerikaner überlassen blieb, die europäische Integration trotz der Krise aus einem positiveren Blickwinkel zu betrachten. Ähnlich wie in Japan, erklärte Andrew Moravcsik, Professor in Princeton, herrsche in Europa ein pessimistischer Diskurs vor.Europäer selbst stellten Europa häufig als schwach dar, nicht als stark. Dabei würden die Fakten eine andere Sprache sprechen. Denn neben den USA seien momentan die Europäer die einzigen Akteure, die weltweite Entwicklungen wirklich beeinflussen könnten. Und die Europäer verfügten dabei über Politik-Optionen, die den USA fehlten, besonders auf der zivilen Seite der Konfliktbearbeitung, die, wie die Erfahrungen in Afghanistan und Irak gezeigt hätten, von großer Bedeutung seien. Zudem existierten einige Institutionen wie der Internationale Strafgerichtshof nur deshalb, weil die Europäer sie unterstützen und finanzieren würden. Und auch auf militärischem Gebiet seien die Europäer nicht zu unterschätzen. So hätten sie wesentlich den Regime-Wechsel in Libyen erleichtert und unterstützt. Die europäische Krise sei also auch eine Krise der Wahrnehmung – „The crisis is a crisis of ‚Bewusstsein‘“, sagte Moravcsik – denn statt auf Erfolge zu verweisen, stellten die Europäer gerne ihre Schwächen und Mängel heraus, etwa, dass beim Strafgerichtshof die Amerikaner nicht mitmachten und beim Libyen-Einsatz die Deutschen. Mehr Selbstbewusstsein sei nötig, sagte Moravcsik, und forderte die politischen Eliten auf, beim nächsten Termin in Washington zu sagen: „Wir haben diese und jene Fähigkeit, die ihr nicht habt.“
Das vielleicht wichtigste Ergebnis der Konferenz: Europa ist kein Nationalstaat, wird aber laufend an den Fähigkeiten und Kompetenzen von Nationalstaaten gemessen. Vergleicht man die EU aber mit anderen Staatenbünden, wird deutlich, wie erfolgreich die europäische Integration eigentlich ist. Fast auf allen Politikfeldern bestehen Verbesserungsmöglichkeiten, klar. Aber Europa ist nicht nur Krise, sondern, nüchtern betrachtet, auf vielen Feldern ziemlich erfolgreich.
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