Es ist ein unangenehmes Gefühl, als Gast bei einem Familientreffen anwesend zu sein, dass auf einmal völlig aus dem Ruder läuft. Auf einmal beschimpft sich die Familie auf heftige Art und Weise, die Familienmitglieder holen die ganze schmutzige Wäsche der letzten Zeit aus der Tasche, um sie mal so richtig durchzuwaschen. Man kann als Gast nicht einfach aufstehen und gehen – das würde auffallen – und interessant ist die Szene ja auch irgendwie. Seine Meinung zu äußern, wäre allerdings komplett unangemessen. Also sitzt man da, hört zu und hofft, dass einen niemand bemerkt.
Ungefähr so war meine Stimmung gestern bei der Aufführung des Monologs „La Merda“ („Die Scheiße“) von Cristian Ceresoli im Teatrino degli Illusi, eine Veranstaltung im Rahmen des Gender Bender Kulturfestivals in Bologna. Und was für schmutzige Wäsche gewaschen wurde, Berge schmutziger Wäsche, die Wäsche ganz Italiens. Was wir über das „Belpaese“ zu hören bekamen, war alles andere als appetitlich, das Panorama eines Landes, das sich ergeht in oberflächlichem Konsumismus, in Sexismus und Gewalt. Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, die einen großen Traum verfolgt: Ins Fernsehen zu kommen. Und dafür geht sie durch die Hölle. Sie unterwirft sich einem gnadenlosen Diktat anderer. Macht Diäten, nimmt zu, erträgt sexuelle Gewalt, flüchtet in Traumbilder. Zweimal isst sie ihre eigenen Exkremente. Und das alles nur, um an Ende einmal die italienische Nationalhymne singen zu dürfen.
Die Leistung der Schauspielerin, Silvia Gallerano, ist beeindruckend. Nackt sitzt sie über 40 Minuten auf einem riesigen Hocker und erzählt, unterstützt von ausdruckstarker Mimik und Gestik, die Lebensgeschichte der Protagonistin. Sie spricht leise, dann schnell, dann schreit sie, den Finger in die Höhe gestreckt. Eine riesige Textmasse. Eng ausgedruckt entspricht sie zehn Seiten.
Man ging also hart mit der eigenen Gesellschaft ins Gericht und das Publikum lechzte geradezu nach mehr. Heftiger Applaus nach jedem der drei Akte, dazu Szenenappalaus. Eine solche Selbstkritik erlebt man selten. Und manches stimmt ja auch. Es gibt junge Frauen, oder besser: Mädchen, deren Ziel es ist, leicht bekleidetes Showgirls im Fernsehen zu werden, und es gibt diese Showgirls, die anschließend politische Karriere machen. Das Fernsehen als Pforte zur Macht. Berlusconis Sex-Eskapaden sind mittlerweile sowieso legendär. Ein Witz, aber für wen? Über die Mädchen, die ihm zur Stelle waren, weiß man meistens wenig.
Natürlich ist das Bild, dass dieses Theaterstück vermittelt, nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist das Publikum, das schockiert ist ob dieser gesellschaftlichen Entwicklungen. Und mit diesem Publikum würde man sich nur zu gerne solidarisieren, ihre Partei ergreifen. Aber: Es ist eben eine Sache, ob man sich selbst kritisiert, oder andere. Im ersten Fall darf die Kritik viel härter ausfallen als im zweiten. Das ist mein Dilemma. Am Ende der Aufführung heftiger Applaus. Ich klatsche mit und hoffe, dass es niemand sieht.
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